“Wer sät, der kann ernten”
Nicht unweit vom Bahnhof in Affoltern am Albis in der Region um Zürich lebt Familie Hediger in einem unscheinbaren Einfamilienhaus geschmückt von Hagebuttensträuchern, Tomatensträuchern, Weinranken sowie jungen Fruchtbäumen. Neben dem Hauseingang steht der Schriftzug “Hedigers Lädeli”. Dahinter verstecken sich fein säuberlich aufgereiht viele feine Produkte aus besonderen Früchten. Die Produktpalette reicht von Süssmost über Schaumweine, Dörrfrüchte, Gonfi, Essige, Sirupe und Brände.
ProSpezieRara
Vor dem Laden steht ein kleiner grüner Metalltisch mit einer kräftigen Gurke sowie ein paar Zertifikaten – eines davon ist “ProSpecieRara”. ProSpecieRara-Sorten dürfen nicht gentechnisch verändert oder hybrid sein. Sie sollten wieder vermehrt im Grosshandel erhältlich sein, in der Schweiz auch traditionellerweise angebaut und genutzt worden sein oder einem Sortentyp entsprechen (siehe Wissen Details für mehr Infos dazu).
Hans Peter widmet sich in seiner Obstsortenvielfalt vor allem ProSpecieRara-Sorten, welche vor dem Aussterben bedroht sind. Hinter diesen Auszeichnungen steckt viel Mühe und ein Leben lang harte Arbeit. Im Jahr 2000 hat er sich selbstständig gemacht (Hanspeter Hediger). Dabei war er lange Zeit im Bezirk Affoltern für kantonale Naturschutzgebiete zuständig. Der Praktiker – “Der Mann an der Front.”
Von Sorten – zu Produktvielfalt
In der Küche des Hauses steht Esther Hediger. Sie schneidet Apfelringe und Schnitze und reiht sie auf. Esther widmet sich der Handverarbeitung der Produkte und nimmt ihre Arbeit sehr genau. “Wir haben viel und hart gearbeitet und müssen uns langsam zurücknehmen und auch noch gut leben – noch ein bisschen geniessen.”
Esther verarbeitet mit ein paar helfenden Händen alles selbst. Nur der Überschuss der Früchte wird zu Destillaten verarbeitet, sodass er sinnvoll genutzt wird. Wenn die Früchte jedoch nur für die anderen Produkte ausreichen, gibt es keine Destillate. Hans Peters Lieblingsprodukt ist der Gährmost: “Es schmeckt gut, ist total naturbelassen, ohne Zusätze. Er ist ein sehr feiner Durstlöscher.”
Die Geschichte der Sorten
Hans Peter ist ein redseliger Mann. Immer für einen Witz zu haben. Früher haben sie gesagt, er sei ein Luftikus. Dabei macht er einfach gerne mal einen Spass und möchte die Dinge leicht nehmen; Spass im Leben haben. Den Spass im Leben hat er auch bei seiner Arbeit, erzählt er begeistert – und er hat in seinem Leben viel gearbeitet. Für ihn ist es besonders wichtig, dass er eine Beziehung zu den Bäumen und der Natur hat. Die Bäume mit Liebe zu behandeln macht für ihn die Nachhaltigkeit der Arbeit aus. “Bei mir hat jede Sorte eine Geschichte…”, berichtet er; und wie er als Kind die besonders gut schmeckenden Birnen vor seiner Schwester versteckt hat.
Er holt alte Zeitschriften hervor und referiert von seinen Auszeichnungen. Eine davon ist “Prix Bioterra”, welche Personen auszeichnet, “die sich über einen längeren Zeitraum in einem aussergewöhnlichen Mass für den biologischen Gartenbau, den Naturgarten oder den Biolandbau engagieren” (Bioterra 2013). Er ist stolz, darüber erzählen zu können. Er ist ein Pionier in der Szene gewesen. Auf einem Bild in der Zeitschrift ist die Vielfalt seiner Produkte vor einem Obstbaum aufgereiht. Er zeigt mit einem Finger auf das Bild: “Das Bild ist für mich sehr schön.” Ein zufriedenes Lächeln fährt über sein Gesicht.
Von der Praxis lernen
Er ist ein Praktiker und hat sehr viel von der Praxis gelernt. Hans Peter betont, dass es wichtig ist, Entscheidungen zum Naturschutz nah an der Praxis zu treffen. Er bedauert, dass die meisten Menschen Ökologie und Naturschutz nur noch auf dem Blatt Papier kennenlernen und dass es nur noch wenige Menschen gibt, die eine so intensive Beziehung zu ihrer Arbeit aufbauen.
“Ich habe alles von der Pike auf gelernt…” Er berichtet von seinem schrittweise erarbeiteten grossen zusammenhängenden Praxis-Wissen. Sein Arbeitstag beginnt mit einem Blick aus dem Fenster. “Ich schaue sehr, sehr stark auf das Wetter.” Die Arbeit ist eng mit der Natur verbunden. Zu Hans Peters Angebot gehören neben den Produkten auch Beratungen zur Gartenpflege sowie Workshops zu Sorten.
Hochstammobstgärten
In einem Obstgarten stehen über 90 verschiedene Obstbäume. Insgesamt stehen auf seinen gepachteten Flächen in der Region ca. 400, sagt er. “Fast jeder Baum ist eine andere Sorte. Von Juli bis November muss man wissen, was wann wo reif ist. Wir gehen wöchentlich von Hand auflesen.” Die Sorten reichen von Chäppeli-Apfel über Reinacher Apfel, Oberländer Himbeerapfel, Leuenapfel, Freiherr von Berlepsch Apfel, Uster Apfel, Klingar Apfel, Menznauer Jägerapfel oder die Stäphner Zwätschgen und Einsiedler Wildbirne, um einige davon zu nennen.
An fast jedem Baum zückt Hans Peter sein Taschenmesser, pflückt eine Frucht, schneidet Schnitzchen ins Fruchtfleisch und lässt uns probieren. Jede Apfel- und Birnensorte schmeckt unterschiedlich – von süss-mehlig über sauer und spritzig – der Biodiversität sind keine Grenzen gesetzt. Einige Sorten eignen sich besser für jene und andere für solche Produkte.
Alte Sorten, alte Methoden
Zur Schädlingsbekämpfung nutzt er Tontöpfe mit Strohwolle. Dort nisten sich Florfliegen und Ohrwürmer ein, welche dann die Läuse und andere Schädlinge fressen.
Er zeigt uns auch die Bienen neben seiner Obstbaumplantage. “Es sind zwar nicht meine, aber die gehören für mich auch dazu. Ich sehe alles ganzheitlich”, betont er. Auch der Austausch ist für ihn wichtig. Er gibt Workshops und Projektwochen, möchte Menschen mit einbeziehen – sein altes Wissen weitergeben.
Er erzählt auch vom Wachstumsschnitt, der für ihn in Frage kommt, wenn der Baum zu üppig wächst. “Zum Beruhigen macht man nicht Winterschnitt, sondern Sommerschnitt. Im Sommer, wenn man Ruten wegnimmt, nimmt man Wachstumshormone weg und kann den Baum so beruhigen. Und wenn man im Winter schneidet, sind die Wachstumshormone in den Wurzeln und im Stamm eingestaut.”
Vom Geben und Nehmen
Die Ernte macht dem betagten Mann am meisten Spass. Für Hans Peter ist es eine schöne Zeit, wenn man im Frühling den blühenden Baum begleitet und betreut, sodass es ihm gut geht. Genauso bereitet es ihm Freude, wenn man im Herbst sieht, wie er in Hülle und Fülle Freude macht. “Das, was ich ernten kann, ist mein Reichtum, auch im Geist…” Die Arbeit mit Freude und Respekt anzugehen ist für ihn besonders wichtig. “Ich gebe der Natur sehr viel. Mein ganzes Leben lang habe ich schon so viel gemacht und getan, aber sie gibt mir so viel retour.”
Und was sagt die Zukunft?
Hans Peters grösste Herausforderung ist aktuell, dass die Projekte und Ideen weitergegeben werden und in gute Hände kommen.
Die Liebe und das Gefühl zur Natur ist heute fast nur auf dem glänzenden Papier. Aber im Feld draussen siehst du, wie es teilweise verkümmert, weil das Wissen von vielen Fachleuten nicht mehr vorhanden ist und die Liebe zum Detail verloren geht. Wir sollen am Abend stolz sein auf unsere Arbeit und nicht im Akkord schaffen. Das fehlt heute.
Hans Peter schlägt vor, in der kantonalen und kommunalen Arbeit wieder vermehrt die Praktiker zu involvieren. Eine weitere Botschaft ist: “Weniger ist mehr.” Für ihn geht es nicht darum, möglichst viele Naturschutzprojekte und Renaturierungen hochzuziehen, sondern für diejenigen, für die Ressourcen vorhanden sind, auch eine gute und nachhaltige Pflege umzusetzen.
“Naturschutz kostet sehr viel Geld, aber es sollte nachhaltig sein, oder? Alle Gemeinden, die ich betreute im Bezirk, sind heute nicht mehr mit einem Praktiker oder Laien bestückt, sondern nur noch mit Titel. Wenn ich jung wäre, käme ich nicht mehr in Frage, weil ich kein Biologe bin – ohne Titel.” Wir fragen uns nach dem Gespräch jedoch, was ein Titel überhaupt über die Qualitäten und Fertigkeiten eines Menschen aussagt. Hans Peter ist grosszügig und lässt auch uns nicht ohne voll gefüllte Rucksäcke gehen.
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